Israelische Holocaustüberlebende berührt mit ihrer bewegenden Geschichte

Als die Geschichtslehrerin und Koordinatorin des Holocaust-Gedenktages am OGT, Andrea Finke-Schaak, mit dem Vorschlag, auch eine Abendveranstaltung mit dem Ehrengast aus Israel für alle interessierten Bürger anzubieten, an Hatice Kara, Bürgermeisterin der Gemeinde Timmendorfer Strand, herantrat, war diese sofort von der Idee hellauf begeistert. Auf der Suche nach einem würdevollen Veranstaltungsort war die denkmalgeschützte Rotunde im Herzen der Gemeinde schnell ausgewählt. Eine Sorge bereitete der Bürgermeisterin aber Bauchschmerzen. „Es ist unwürdig, unseren Gast zwar ein schönes Ambiente, aber womöglich leere Stuhlreihen zu bieten“, so Frau Kara. Diese Sorge stellte sich als völlig unbegründet heraus. Die Trinkkurhalle brach aus allen Nähten, Stühle wurden herangeschleppt, sogar ein Geschichtsleistungskurs war mit seiner Lehrerin mit dem Nachtzug aus Donaueschingen angereist, um Sara Atzmon, Überlebende der Shoa, hören zu können.

Die heute in Israel lebende 84-jährige gebürtige Ungarin Sara Atzmon absolvierte an diesem Abend des 1. Februars in Timmendorf ihre fünfte und letzte Veranstaltung in der Region, in der sie von ihrem Leidensweg während der NS-Diktatur berichtete. Sie wurde von ihrem Mann Uri und der Mitarbeiterin der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Ebba Tate, begleitet.

Obwohl nicht alle Anwesenden einen Sitzplatz fanden, konnte man an diesem besonderen Abend eine Stecknadel fallen hören, so aufmerksam lauschten die Zuhörer den verschiedenen Vorträgen. Bürgermeisterin Kara schlug bei ihrer Begrüßung einen Bogen zu bedeutenden politischen Größen der jüngeren deutschen Geschichte, zu Willy Brandt, der durch seinen Kniefall in Warschau Gesten sprechen ließ, als Worte nicht mehr ausreichten und zu Richard von Weizäcker, der in seiner international viel beachteten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes darauf verwies, dass erinnern heiße, ein Geschehen ehrlich und rein zu gedenken und dass es Versöhnung ohne Erinnerung nicht geben könne. Sie dankte ausdrücklich Frau Finke-Schaak, der sie diesen besonderen Gast überhaupt zu verdanken hätten.

Frau Finke-Schaak lieferte in ihrer Rede geschichtliche Hintergründe zur besonderen Situation der Juden in Ungarn. So erklärte sie, warum die Juden in Ungarn erst 1944 in die Vernichtungslager transportiert wurden, obwohl doch bereits seit Kriegsbeginn 1939 mit der Vernichtung der Juden – besonders in Osteuropa - begonnen wurde. Sie arbeitete die besondere Rolle Ungarns als Verbündeter Deutschlands heraus und schlug einen Bogen zur heutigen Generation in Deutschland, indem sie anführte, dass man doch meinen müsste, im Jahre 2018 wussten die meisten Deutschen, was mit den Juden in Deutschland und Europa während des Nazi-Regimes passiert sei. Dies sei aber nicht der Fall, wie in einer Studie der Hamburger Körberstiftung aus dem Jahre 2017 nachgewiesen wurde. Danach wüssten 4 von 10 Schülern ab 14 Jahren nichts mit dem Namen Auschwitz anzufangen. So fragte Frau Finke-Schaak, warum jüdische Einrichtungen in Deutschland immer noch durch Polizeiposten bewacht werden müssten und wie es gerade in unserem Land wieder so weit kommen konnte, dass sich der Bundestag dazu aufgefordert sehe, einen Antisemitismusbeauftragten zu installieren.

6 Kerzen wurden von anwesenden Schülern entzündet, stellvertretend für die 6 Millionen getöteten Juden. Die Anwesenden erhoben sich. Es war mucksmäuschenstill.

Dann begann Sara Atzmon geborene Gottdiener zu erzählen. Sie war elf Jahre alt, als sie mit ihrer Familie nach Auschwitz transportiert wurde. Der Zug machte vor den Toren Auschwitz halt. „Auschwitz war überbucht“, so Sara Atzmon ironisch, daher hatte Adolf Adof Eichmann die Anweisung erteilt, den Zug in das österreichische Arbeitslager Strasshof umzuleiten. Es waren die Details in Sara Atzmons Bericht, die die Grausamkeit des NS-Regimes aufscheinen ließen. Zum Beispiel wurde ihrem Vater der Bart abrasiert, eine schwere Demütigung für einen Rabbiner. „Für meinen Vater war das so, als ginge er nackt umher. Er konnte uns Kindern nicht mehr in die Augen schauen.“  Später, als die Familie auf einem Bauernhof in Österreich harte körperliche Arbeit verrichten musste, starb ihr Vater geschwächt von den vielen Entbehrungen. „Ich weinte einen ganzen Tag lang – und danach als Kind nie wieder", so die Zeitzeugin. „Der SS-Offizier, der uns bewachte, gestattete, dass zehn jüdische Männer aus dem Nachbarort kommen und das Kaddisch, das Trauergebet, sprechen durften", das zeige, dass es auch innerhalb eines brutalen Systems Spielräume für Menschlichkeit gegeben habe.

Mit 96 weiteren Häftlingen, die sich einen Eimer Wasser und einen zweiten Eimer für die Notdurft teilen mussten, wurde sie 1944 in einem Viehwaggon nach Bergen-Belsen transportiert. „Schnell war der eine Eimer leer und der andere voll, es war heiß, wenn der Zug anfuhr oder abrupt anhielt, schwappte  der Eimer über. Der Gestank war bestialisch.“ Die Fahrt dauerte ewig. Zuerst starben die Babys. „Haben Sie schon mal das Schreien der Mutter gehört, die ihr totes Kind trägt.“ Mit einem roten Kinderschuh und einem schwarzen Damenschuh mit Absatz marschiert sie in das Konzentrationslager ein. Sara hat diese Schuhe dabei und zeigt sie ihrer Zuhörerschaft. Seuchen, Hunger und brutale Willkür waren in Bergen-Belsen an der Tagesordnung. Häftlinge wurden zu Versuchszwecken vorsätzlich mit Typhus infiziert, der Anblick bis auf die Knochen abgemagerter Leichen und der Gestank nach Verwesung seien Normalität gewesen. „Wir sahen nicht mehr wie Menschen aus.“ Wie kann ein Kind so etwas überleben? Sara Atzmon berichtet, wie sie während der stundenlangen Appelle buchstäblich aus ihrem Körper herausgetreten ist und sich von außen von der Seite betrachtet hat.

Auf 17 Kilogramm abgemagert wurde Sara Atzmon, inzwischen 12 Jahre alt, schließlich von amerikanischen Soldaten am 13. April 1945 aus einem Viehwaggon befreit, den SS-Wachleute auf den Gleisen stehen gelassen haben, als die Alliierten immer näher rückten. Einen der 16 GIs, die den Transport befreit haben, traf Sara Atzmon vor kurzem in den USA. "Das war ein unbeschreibliches Gefühl, meine Retter noch einmal wiederzusehen", schilderte sie. Über 60 Familienangehörige aber sind der nationalsozialistischen Diktatur zum Opfer gefallen.

Sara Gottdiener emigrierte nach Kriegsende als Halbwaise nach Palästina. Dort besuchte sie die Schule und engagierte sich später für den jungen Staat Israel, heiratete den Israeli Uri Atzmon und fing erst 40 Jahre nach der Shoa an, über das zu erzählen, was ihr widerfahren war. Früher, so sagte sie dazu befragt, habe sie sich den grauenvollen Erlebnissen und inneren Bildern nicht zu stellen vermocht. Im Alter von 55 Jahren fing Sara Atzmon schließlich an zu malen. "Worte vermögen nicht auszudrücken, was in mir vorgeht", berichtete die Zeitzeugin. "Sie sind vergänglich. Bilder hinterlassen einen bleibenden Eindruck." Einige dieser ausdrucksstarken Gemälde waren während ihres Berichts im Hintergrund zu sehen.

Sara Atzmon endet ihren Bericht damit, dass sie sagt, „Erzählt Euren Kindern, dass ihr mich getroffen habt. Seid meine Botschafter.“ Ihr Mann Uri ruft dazu auf, im Alltag nicht wegzusehen, wenn Ungerechtigkeiten geschehen. Frühzeitig einzugreifen, Zivilcourage zu zeigen sei wichtig. Mit der Metapher vom Feuer, das sich immer weiter ausbreitet und schließlich ein ganzes Haus vernichtet, machte er deutlich, dass jeder in seinem Umfeld einschreiten solle, bevor Rassismus und Diskriminierung in einer Gesellschaft immer weiter zunehmen und mehrheitsfähig werden.

Nun zeigt Uri Atzmon das letzte Bild der Präsentation. Berührt applaudierten die Zuhörer. Es ist ein Foto, das das Ehepaar Atzmon in Israel zeigt, umringt von ihren 6 Kindern, 22 Enkelkindern und 8 Urgroßenkeln. Dann holt Sara Atzmon ihre Mundharmonika hervor und spielt die Hatikva, die israelische Nationalhymne.

Ebba Tate, gebürtige Schleswig-Holsteinerin, die seit fast 40 Jahren in Israel lebt, betont, dass sie noch nie wegen ihrer deutschen Herkunft in Israel schlecht behandelt worden sei. Die Israelis wüssten sehr wohl zu differenzieren, sie weisen den Nachgeborenen keine Schuld zu. Sie erwarteten aber, dass wir Deutsche unsere Geschichte kennen und dass wir daraus eine Verantwortung für die Zukunft ableiteten.

Ein starker Auftritt geht zu Ende – Prof. Pastor Vogel moderiert nun die anschließende Fragestunde. Ein Besucher zeigt sich sehr bestürzt, er habe erst kürzlich erfahren, dass sein Großvater ein Lokführer eines solchen Viehwaggons gewesen sei, mit dem Juden wie Sara Atzmon transportiert worden seien. Ob sie ihm helfen könne, mit diesem Wissen fertig zu werden. „Das müsse schon jeder mit sich selbst abmachen“, meinte der Ehrengast aus Israel.

Fertigwerden mit ihrem Schicksal ist das, was Sara Atzmon seit ihrem 11. Lebensjahr tun muss. Abende wie diese in Timmendorf helfen ihr vielleicht dabei.

Andrea Finke-Schaak, Februar 2018