Liebe Hanna Mecklenburg,

Ich komme aus einem Dorf, nicht weit von Lübeck, deinem Heimatort, entfernt. Ich bin Schülerin des Ostsee-Gymnasium Timmendorfer Strand.

Ich schreibe dir aufgrund meiner Teilnahme an der Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz. Bei dieser Fahrt beschäftigen wir uns noch tiefgründiger mit diesem geschichtlichen Ereignis und versuchen dabei, die bedeutendste und zugleich schrecklichste Geschichte Deutschlands besser zu verstehen.

Seit mehreren Jahren bietet unsere Schule diese Gedenkstättenfahrt an, und im Laufe der Zeit ist es zu einer Tradition geworden, dass wir uns am letzten Tag in Auschwitz versammeln, um an die verstorbenen Juden zu gedenken. Dies tun wir in Form von Briefen, die uns die Gelegenheit bieten, unsere Gedanken und Gefühle auszudrücken.

Die Möglichkeit, an dieser Fahrt teilzunehmen, und die Erzählungen der vorherigen Teilnehmer erinnern mich daran, wie wichtig es ist, sich ausreichend mit diesem geschichtlichen Ereignis zu beschäftigen, um daraus zu lernen und sicherzustellen, dass so etwas nie wieder vorkommt.

Ich möchte deine Geschichte und deine Erfahrungen verstehen, um daraus zu lernen und um die Bedeutung von Toleranz, Vielfalt und Menschlichkeit an die jüngeren Leute weiterzugeben.

Wie war deine Kindheit? Hattest du viele Freunde? Wussten deine Freunde vor dem Nationalsozialismus, dass du Jüdin bist? Wie sah deine Familie aus? Wie waren deine Beziehungen zu ihnen? Wie hast du dich gefühlt, als du erfahren hast, dass die Nazis an die Macht kamen? Wie bist du mit deinen Gefühlen umgegangen? Gab es Personen, die dir besonders in dieser Zeit geholfen haben? Gab es Momente der Freude oder Hoffnung in dieser Zeit? Hast du während deiner Flucht viel über deine Familie und Freunde nachgedacht? Hast du dich oft gefragt, wie es ihnen geht? Wie hast du dich gefühlt, als du gehört hast, dass Deutschland Belgien überfallen hat? Wie hast du reagiert? Was wurde dir gesagt, als ihr entdeckt wurdet? Wusstest du, was dich erwartet, als du nach Auschwitz deportiert wurdest? Was waren deine Träume?

All diese Fragen kamen mir in den Sinn, als ich mich mit deiner Geschichte befasst habe. Ich möchte verstehen, wie du dich gefühlt hast, denn für mich ist es unvorstellbar, wie es für dich gewesen sein muss, in dieser Zeit deine Jugend zu verbringen.

Deine Kindheit, die du in Lübeck in der Mengstraße 52 verbracht hast, klingt nach einer Zeit, die trotz der Herausforderungen bezüglich deiner Religion, mit vielen liebevollen und schönen Momenten geprägt war. Ihr habt oft die Geburtstage und die Hochzeiten deiner Verwandten zusammen gefeiert, außerdem kam deine Oma Falck euch häufig besuchen. Du konntest im Gegensatz zu deinem Bruder zuerst auf eine „normale“/ nicht jüdische Schule, die Ernestinenschule, gehen. Diese Schule gibt es auch heute noch in Lübeck.
Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, fühltest du dich nicht mehr wohl in deiner Heimatstadt Lübeck. Wie solltest du dich auch wohl fühlen, wenn die Regierung einen unterdrücken will? Ich finde es bewegend zu lesen, wie du dich dem jüdischen Jugendbund angeschlossen hast, um mit Leuten, die sich genauso fühlten wie du, eine Auswanderung nach Palästina zu planen. Ihr wolltet dort einen jüdischen Staat aufbauen, der frei von Antisemitismus und Judenhass war. Dieser Plan ging leider nicht auf, da du kein Visum für Palästina bekamst. Ich finde es beeindruckend, was du in deinem jungen Alter erschaffen wolltest und es zeigt in meinen Augen auch deinen Mut und deinen Überlebenswillen. Auch eure Ausflüge am Wochenende, bei denen ihr wahrscheinlich versucht habt, der Realität für eine kurze Zeit zu entfliehen, stehen für mich als ein Ausdruck eurer Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Aufgrund der Angst vor der Kündigung entschied dein Vater, nach Brüssel zu fliehen, dies brachte wahrscheinlich große Unsicherheit und Angst in deine Familie. Jedoch stand fest, dass ihr ihm bald folgen würdet. So kamst du 1938 nach Belgien, wo du als Haushaltshilfe in einer belgischen Familie arbeitetest. Du lebtest mit deinen 16 Jahren nicht mal mit deiner Familie zusammen, sondern alleine in einer Kammer bei der Familie, bei der du gearbeitet hast. Ich kann mir nicht vorstellen, mit meinen 16 Jahren von meiner Familie getrennt zu werden. Als du die Nachricht bekommen hast, dass dein Vater verhaftet wurde und kurze Zeit später gestorben ist, wie hast du dich gefühlt? Wie hast du es erfahren? Wie bist du mit deiner Trauer umgegangen? Hattest du überhaupt Zeit zu trauern oder musstest du den ganzen Tag arbeiten? Hattest du nach der Verhaftung von deinem Vater noch mehr Angst, entdeckt zu werden? Als ihr die Aufforderung erhalten habt, euch im Sammellager einzufinden, wie hast du dich gefühlt? Dachtest du es ist vorbei oder hattest du noch Hoffnung auf eine Rettung? Nachdem du dich im Sammellager eingefunden hast, wurdest du am 11. August nach Auschwitz deportiert. Was waren deine Gedanken während der Zugfahrt?

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für dich gewesen sein muss, in dieser Zeit zu leben. Heutzutage haben wir alle Zugang zu Bildung, wir genießen Freiheit und uns bieten sich sehr viele Chancen, alles Dinge, die du in deiner Zeit nicht hattest. Außerdem ist unsere heutige Zeit von Technologie und Wohlstand geprägt. Wir können keinesfalls die heutige Zeit mit der Grausamkeit des Zweiten Weltkrieges vergleichen. Das damalige Geschehen ist für uns unvorstellbar und viel schlimmer als alles, was wir heute erleben. Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie es sich anfühlt, mit Unsicherheit und Einschränkung der Freiheit zu leben. Wir waren während dieser Zeit gezwungen, zu Hause zu bleiben und unsere sozialen Kontakte zu vermeiden, um uns vor der Krankheit zu schützen. Es war für mich schwer, nicht zu wissen, was als Nächstes passieren wird. Wie musst du dich damals nur gefühlt haben? Es muss dich so viel Mut und Stärke gekostet haben, diese Zeit zu überstehen. Jeden Tag mit dem Gefühlt aufzuwachen, war es das jetzt? Wie viel Zeit bleibt mir noch? Werden wir bald gerettet?

Du und Millionen andere unschuldige Menschen, deren Leben während des Holocaust unvollendet blieb, wurden zu Opfern eines schrecklichen Verbrechens. Du sollst nicht nur als Opfer dieses schrecklichen Ereignis erinnert werden; niemand sollte das. Jeder einzelne, darunter auch du, hatte eine individuelle Geschichte, die man erzählen muss.

Ich verspreche dir, Hanna, dass ich mich immer an dich und dein Leben erinnern werde, welches dir auf so schreckliche Weise genommen wurde. Ich werde deine Geschichte weiter erzählen, damit die Welt nicht vergisst, was damals geschehen ist und um sicherzustellen, dass so etwas nie wieder vorkommt. Zuletzt möchte ich dir noch mitteilen, dass bald in meiner Schule ein Mahnmal errichtet wird, um dich und deinen Bruder zu ehren. Dieses Mahnmal wird auf unserem Pausenhof stehen und uns immer an deine Geschichte und die deines Bruders erinnern.

 

Meine Gedanken sind bei dir, Hanna, und all den anderen unschuldigen Opfern des Holocaust.
Deine Vanessa, Q1

 

 

Zurück zur Übersicht - „Ich habe lieber weggeschaut“ - Gedenkstättenfahrt 7. - 14. Oktober 2023