Interview mit Jurek Szarf (*1933) anlässlich des Holocaust-Gedenktages

Interview mit Jurek Szarf (*1933) mit Fragen der Eb (Geschichtsprofil)


Der Holocaust-Überlebende Jurek Szarf, der bereits mehrmals bei der von Frau Finke-Schaak ins Leben
gerufenen, jährlichen Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag zu Gast am OGT war (zuletzt im Jahr 2019),
wurde 1933 im polnischen Lodz geboren. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges (die deutsche Wehrmacht
war am 9. September 1939 in Lodz einmarschiert) wurde dort im Februar 1940 das Ghetto Łódź, eines der
größten im „Dritten Reich“, errichtet, in das auch der damals gerade einmal sechs Jahre alte Szarf und seine
Familie eingesperrt wurden.

Die dort festgehaltenen Juden mussten Zwangsarbeit leisten und wurden später
zum größten Teil in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. So erging es auch Szarf und seiner
Familie: Zusammen mit seiner Mutter und seiner Tante wurde er nach Auflösung des Ghettos 1944 zunächst
ins KZ-Frauenlager Ravensbrück (heutiges Fürstenberg/Havel in Brandenburg) verlegt und kam dann kurze
Zeit später in die zum KZ Sachsenhausen (Berlin) gehörige Außenstelle Königs Wusterhausen, wo er seinen
Vater und mehrere Onkel wiedertraf. Zusammen mit ihnen wurde er erneut verlegt, dieses Mal ins KZ
Sachsenhausen, das (die Rote Armee war nur noch wenige Kilometer entfernt) am 21. April 1945 von der SS
geräumt wurde. 33.000 der noch verbliebenen 36.000 Häftlinge wurden auf sog. „Todesmärsche“ gen
Nordwesten geschickt, die Tausende von ihnen, darunter auch zwei Onkel von Szarf, nicht überlebten. Szarf,
sein Vater und ein weiterer Onkel, die zu schwach gewesen waren, um das KZ zu verlassen, wurden kurz vor
Kriegsende schließlich von sowjetischen Truppen befreit und vor der Erschießung durch SS-Männer gerettet.
Zusammen mit anderen Gefangenen, u.a. aus dem Frauen-KZ Ravensbrück, wurden sie zunächst in zwei
Kasernen in Schwerin untergebracht.
Szarfs Mutter war – wie sein Vater etwas später herausfand – in den letzten Kriegstagen im KZ Königs
Wusterhausen verhungert, seine Tante hatte man (auf dem Weg ins KZ/Vernichtungslager Auschwitz-
Birkenau) einfach aus dem Zug geworfen. Auch sein Vater starb nur wenige Jahre nach Kriegsende an den
Folgen der KZ-Haft. Der zu diesem Zeitpunkt erst 17-jährige Szarf wanderte mit seinem Onkel 1951 in die
USA aus, kam aber zu Beginn der 1970er Jahre zurück nach Deutschland. Heute lebt Jurek Szarf in
Stockelsdorf und ist 87 Jahre alt – er ist damit einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen, die über ihre
Erlebnisse im KZ berichten können und dies auch tun: Seit 20 Jahren besucht Szarf Schulen und hält
Vorträge vor Jugendlichen – für sein Engagement und seinen „Kampf gegen das Vergessen“ wurde Herr
Szarf am 1. September 2020 durch Ministerpräsident Daniel Günther mit dem Bundesverdienstkreuz am
Bande ausgezeichnet.
Aufgrund der Corona-Pandemie kann der diesjährige internationale Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, der
im Jahr 2005 von den Vereinten Nationen zum Gedenken an den Holocaust und den 60. Jahrestag der
Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau eingeführt wurde, in Timmendorf und am OGT
nicht wie gewohnt begangen werden. Stellvertretend für die Fragen, die unsere Mitschüler:innen beim
Zeitzeugen-Vortrag sicher gern gestellt hätten, haben wir – die Klasse Eb, Geschichtsprofil von Frau
Weisbarth – ingesamt sechzehn Fragen an Herrn Szarf formuliert. Auf seine Antworten müssen wir
allerdings leider noch etwas warten: Da der Holocaust ein hochsensibles Thema ist und Herr Szarf uns
mitunter von traumatischen Erlebnissen berichten wird, haben wir uns in Absprache mit ihm dagegen
entschieden, ein telefonisches Interview zu führen. Stattdessen möchten wir noch etwas abwarten und
hoffen, dass die Pandemie-Lage es uns (oder zumindest unserer Lehrerin) bald erlaubt, Herrn Szarf
persönlich zu treffen. Bis dahin bitten wir euch / Sie um ein wenig Geduld und hoffen, dass ihr / Sie ebenso
gespannt auf Herrn Szarf Erzählungen seid / sind wie wir!
Eure / Ihre Klasse Eb

 

Das Interview

Die Zeit des Wartens hat ein Ende! Am 07. Juni haben Frau Finke-Schaak und Frau Weisbarth Herrn Szarf endlich besuchen können und ihn interviewt – hier findet ihr / finden Sie ab sofort seine Antworten[1] auf unsere Fragen:

 

1) Wann haben Sie die antisemitische Stimmung in Polen bemerkt? Wann wurde Ihnen (oder Ihre Eltern) der „Ernst der Lage“ bewusst?

 

In Polen kam das eigentlich erst mit dem Einmarsch der Nazis. Zuerst „bemerkt“ haben es sicherlich die orthodoxen [streng gläubigen] Juden – davon hat mir mein Vater nach dem Krieg erzählt [Szarf war 1939 erst sechs Jahre alt].

Dass die Nazis nicht vor Gewalt zurückschreckten, musste Szarf früh (noch vor Errichtung des Ghettos Łódź) am eigenen Leib erfahren:

Ich saß auf dem Tisch und meine Mutter band mir gerade die Schnürsenkel zu [Szarf trägt bis heute keine Schnürschuhe], als die Nazis gegen die Tür schlugen, um in unsere Wohnung einzudringen und unsere Wertgegenstände „mitzunehmen“. Automatisch habe ich – ich hatte ja drei alleinstehende Onkel und dachte, der Mann in der fremden Uniform würde mich hochheben wollen – die Arme nach dem SS-Mann ausgestreckt. Dieser streckte mir seine Arme ebenfalls entgegen, hob mich hoch und schleuderte mich so stark gegen die Wand, dass ich das Bewusstsein verlor.

 

2) Wie ist man mit Juden im Lodz (auf der Straße) umgegangen? Welche Schikanen und Einschränkungen haben Sie miterlebt?

 

Mit dem Einmarsch der Nazis kamen die ersten Verbote. Ich kann mich an einen Spaziergang mit meinem Onkel in einer Parkanlage erinnern – auf einmal durften wir uns nicht mehr auf Bänke setzen. Das habe ich nicht verstanden!

 

3) Wünschten Sie sich damals – oder auch später als Jugendlicher oder Erwachsener – manchmal, nicht jüdisch zu sein?

 

Nein! Jüdisch sein ist wie „Rucksacktragen“ – diesen Rucksack kann man nicht ablegen, man hat ihn immer bei sich.

 

4) Was war ihr einschneidendstes Erlebnis im KZ?

 

Bis zu seiner Auflösung 1944 war Szarf im Ghetto Łódź. Die Behandlung des Sohnes des Gauleiters durch einen jüdischen Arzt ist ihm besonders im Gedächtnis geblieben:

Der Gauleiter fragte meine Tante [Szarfs Tante war aufgrund ihrer Deutschkenntnisse dessen „Chefsekretärin“] nach einem jüdischen Arzt, weil einer seiner Söhne schwer erkrankt war. Meine Tante fand einen – der Gauleiter ließ diesen Arzt dreimal von seinem Chauffeur aus dem Ghetto abholen. Beim dritten Mal kehrte er nicht mehr zurück – weil er seine „Dienste“ nicht mehr benötigte, hatte der Gauleiter ihn eigenhändig erschossen.

1944 wurde Szarf ins KZ Ravensbrück deportiert – alle anderen Kinder waren es bereits oder wurden spätestens bei Auflösung des Ghettos ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht. Er berichtet von der Organisation des Transportes:

Ein Bekannter, der im Ghetto die Mehlsäcke schleppen und verteilen musste und daher etwas kräftiger war als die meisten anderen Juden (er bekam auch mehr zu essen), musste die Ghetto-Bewohner für die Deportation „sortieren“. Seine eigene Familie stand auf der Liste für den Transport nach Auschwitz. Er hatte eine Frau, einen Sohn und zwei Töchter. Weil er gute Arbeit leistete, gestattete ihm der verantwortliche Nazi, zwei seiner Angehörigen aus dem Zug zu holen. Er entschied sich schließlich für die beiden Töchter, weil sie ihm wehrloser erschienen. Die drei überlebten und gingen später in die USA. Von seiner Frau und seinem Sohn hat er nie wieder etwas gehört.

 

5) Hatten Sie dort Kontakt mit anderen Kindern?

 

Szarf erinnert sich an ein Mädchen, dem er kurz vor der Auflösung des Ghettos begegnete: Das Mädchen hatte blonde Haare und hieß Marka. Wir saßen gemeinsam in einem Raum mit zwei Türen, als wir schwere Stiefelgeräusche hörten. Durch den Lüftungsschacht der Tür konnten wir die sich nähernden Schuhspitzen sehen. Marka versteckte sich. Ich hatte meine „Lebensversicherung“ immer bei mir – der SS-Mann schaute sich diese an und fragte mich, ob noch andere Kinder hier seien. Natürlich habe ich Marka nicht verraten (die Nazis waren ja auf der Suche nach Kindern). Etwas später kam Marka aus ihrem Versteck und verließ den Raum. Ich habe sie nie wiedergesehen.

In den Konzentrationslagern selbst waren keine Kinder. Auch ich musste mich „versteckt“ halten und habe versucht, möglichst nicht aufzufallen.

 

6) Wissen Sie, wie es Ihrer Tante genau gelungen ist, Ihnen Ihre „Lebensversicherung“ (das Schreiben des Ghetto-Leiters) zu beschaffen?

 

Meine Tante wurde aufgrund ihrer Deutschkenntnisse [sie hatte in Berlin studiert und war einige Jahre zuvor wegen ihrer letztlich „geplatzten“ Verlobung nach Lodz zurückgekehrt] die Sekretärin des Gauleiters, der viel getrunken hat. Sie hat ihm „im Suff“ ein Schriftstück, meine „Lebensversicherung“,  vorgelegt und er hat unterschrieben.  

 

7) Können Sie sich an Nationalsozialisten (im KZ) erinnern, die Zweifel am NS-Gedankengut haben durchblicken lassen?

 

Nein, die haben ja auch nicht mit uns Juden gesprochen. Ich kann mich an keinen Nazi erinnern, der Milde gezeigt hätte. [Laut Herrn Szarf waren alle SS-Männer, die im KZ arbeiteten, „freiwillige Mörder“ – durch ihren Einsatz im KZ erhofften sie sich, nicht an die Front geschickt zu werden.]

 

8) Wie haben Sie sich unmittelbar nach der KZ-Befreiung gefühlt?

 

Mein Onkel, mein Vater und ich (mein Vater, war der einzige, der noch stehen konnte – er war kräftig, weil er vor dem Krieg Ringer gewesen ist – mein Onkel war zu krank und meine Beine und Füße waren von Läusen zerfressen) warteten zusammen mit etwa dreißig anderen Häftlingen auf die Hinrichtung, aber statt der SS kamen die Russen.

[Es ist davon auszugehen, dass sie dies zunächst gar nicht wirklich realisierten.]   

 

9) Hatten Sie das Gefühl, dass die Menschen Sie auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges für „anders“ hielten?

 

Szarf, den die Nazis wie alle anderen Juden für eine Art „Ungeziefer“ gehalten und auch so behandelt hatten, hielt sich selbst für „anders“:

Ich war großer Jazz-Fan und als 1946 ein Film über einen der großen Jazz-Musiker im Kino gezeigt wurde, erzählte ich meinem Vater davon. Er sagte, ich könne ihn mir doch ansehen. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht, weil ich glaubte, dass ich als Jude (noch immer) nicht ins Kino gehen dürfte.

 

10) Wie würden Sie die antisemitische Stimmung nach 1945 beschreiben?

 

Ich hatte eher den Eindruck, dass die „alten Nazis“ [nach seiner Rückkehr nach Deutschland traf Szarf auf einer Kur zufällig einen ehemaligen KZ-Wächter] das Bedürfnis hatten, sich von mir „freisprechen“ zu lassen, wenn sie bemerkten, dass ich mit meiner Familie jiddisch sprach. Einer hat mich sogar um ein Gespräch gebeten und sich darin vor allem für sein eigenes Verhalten gerechtfertigt.  [Von der mangelnden Aufarbeitung der NS-Zeit in der BRD bis hinein in die 1970er-Jahre hat Szarf vermutlich wenig mitbekommen, da er 1951 in die USA emigrierte und erst 1972 zurückkehrte.]

 

11) Inwiefern stellen Ihre Erlebnisse noch heute eine Belastung für Sie dar? Haben Sie manchmal Albträume?

 

Szarf erzählt von unterschiedlichen „Angewohnheiten“, die (wie die Tatsache, dass er bis heute keine Schnürschuhe trägt, s. Frage 1) auf seine traumatischen Erlebnisse zurückzuführen sind:

Als ich in Amerika meine Frau kennenlernte, habe ich ihr zunächst nicht meinen jüdischen Namen gesagt, sondern mich als „Gert“ vorgestellt. Außerdem bekommen bis heute alle Bekannten eine Art „Decknamen“ von mir – wenn ich eine Verabredung habe, notiere ich mir in meinem Terminkalender nie den richtigen Namen, weil ich Angst habe, dass die Person (wie früher) in Schwierigkeiten geraten könnte, weil sie mit mir (einem Juden) zu tun hat.

 

12) Wie ist es Ihnen gelungen – trotz des unvorstellbaren Leids, das Ihnen und Ihrer Familie widerfahren ist – nach Endes des Zweiten Weltkrieges ein „normales“ Leben zu führen?

 

Bei Errichtung des Ghettos 1939 war Szarf sechs Jahre alt und hatte folglich bis 1945 nie eine Schule besucht:

Mein Vater schickte mich sofort in die Schule. Dort fühlte ich mich aber nicht wohl, weil die anderen Kindern mich wegen meiner fehlenden Grundkenntnisse ärgerten und allesamt deutlich jünger waren als ich. Nach dem Tod meines Vaters bin ich dann mit meinem Onkel in die USA gegangen. Dort habe ich eine Ausbildung gemacht und meine Frau kennengelernt. Wir gründeten eine Familie. Meine Arbeit und meine Familie haben mich abgelenkt, ich habe mir aber auch psychologische Unterstützung geholt (die habe ich bis heute). Auf Anraten meines Psychologen habe ich später ein Buch über mein Leben geschrieben und mich dazu entschieden, anderen – vor allem Schülern (meine eigenen Kinder haben „nur“ mein Buch gelesen) – davon zu erzählen. Das hat mir sehr geholfen. Albträume habe ich daher heute nicht mehr.

Für die mir angetane Körperverletzung und die im Ghetto und im KZ geleistete Zwangsarbeit erhalte ich zudem eine finanzielle Entschädigung vom Staat.

 

13) Warum sind Sie trotz der NS-Vergangenheit des Landes später ausgerechnet in die BRD zurückgekehrt?

 

Ich wollte etwas Normalität in das Leben meiner Kinder bringen und ihnen den Kontakt zu ihren Großeltern (die Eltern meiner Frau lebten in Lübeck) ermöglichen. Wenn ich an meine Oma denke, habe ich eine weißhaarige Frau vor Augen, die ich nie richtig kennenlernen konnte. Außerdem konnte ich nicht mit meinem Kindern spielen [Szarf leistete bereits als Sechsjähriger Zwangsarbeit und hatte es daher nie richtig „gelernt“]. Alles begann mit einem Besuch meiner Kinder in Lübeck. Später kamen meine Frau und ich mit und blieben letztlich hier, weil meine Frau leider an Krebs erkrankte und ich mir bereits geschäftlich etwas aufgebaut hatte. Dennoch ist Deutschland nicht meine Heimat – ich habe meiner Frau gesagt, dass ich niemals ein Haus kaufen werde. [Auch das Reihenhaus, in dem Szarf heute lebt, hat er angemietet.]

 

14) Hatten Sie jemals das Bedürfnis, sich persönlich an den Schuldigen zu rächen?

 

Nein, aber ich weiß, wer Nazi war und verhalte mich diesen gegenüber entsprechend [höflich, aber distanziert].

 

15) Inwiefern haben sich Ihr Menschenbild und Ihre Ansicht vom Sinn des Lebens durch den Holocaust verändert?

 

Kinder sind für mich der Sinn des Lebens und als gläubiger Mensch halte ich sie für ein Geschenk Gottes. Aus dem Holocaust „gelernt“ habe ich, dass insbesondere wir Juden immer auf der Hut bzw. in ständiger „Alarmbereitschaft“ sein müssen. Die aktuellen Proteste aufgrund des Nahost-Konflikts und die Anschläge auf (deutsche) Synagogen machen mir Angst – so hat es damals auch begonnen.

 

16) Welche Botschaft haben Sie für die junge Generation, deren Großeltern oder Urgroßeltern während des NS-Regimes Mitläufer waren (oder sich sogar schuldig gemacht haben)? Wie sollen sie mit dieser Bürde umgehen?

 

Die junge Generation trägt keine Schuld, sie sind dafür nicht verantwortlich! Aber: Sie müssen dafür sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt!

 

[1] Die Antworten von Herr Szarf sind jeweils hellgrau. Dabei handelt es sich nicht (immer) um den genauen Wortlaut – im Sinne der Leserführung wurden seine Äußerungen z.T. sprachlich angepasst. Erläuterungen stehen meist in eckigen Klammern und sind dunkelgrau eingefärbt.