Brief an Frieda Bär von Lisanne Marie Schulze

Liebe Frieda Bär,
wir reisen als Gruppe nach Auschwitz, um uns mit der Vergangenheit zu beschäftigen, in der im Namen eines deutschen Staates unerträgliche Gräueltaten verübt wurden.
Wir wollen versuchen, diedeutsche Geschichte nicht nur theoretisch zu verstehen, indem wir Geschichtsbücher lesen und uns Dokumentationen ansehen
- sondern wir möchten mehr wahrnehmen als das.


Wir möchten verstehen, was damals passiert ist, wie es überhaupt dazu kommen konnte und wir möchten eine Ahnung davon bekommen, wie all das hätte verhindert werden können beziehungsweise wie es in unserer heutigen Welt
verhindert werden könnte, so dass sich die Geschichte nicht ein weiteres Mal wiederholt.
Liebe Frieda Bär, über Ihr Leben in Lübeck wissen wir nicht viel - was wir jedoch wissen, ist, dass Sie aus der Mitte Ihres Lebens herausgerissen wurden.
Sie mussten Ihre Wohnung in der St. Annen-Straße 20 aufgeben und in das Asyl der Jüdischen Gemeinde ziehen, in welchem Ihr Ehemann Semmy Bär wenig später aufgrund eines Schlaganfalls verstarb. Allein dieser Schicksalsschlag muss für Sie schwer zu ertragen gewesen sein.
Kurz darauf wurden Sie nach Theresienstadt deportiert, wo Sie ein halbes Jahr Aufenthalt erleiden mussten. Am 29. Januar 1943 wurden Sie erneut deportiert, dieses Mal nach Auschwitz. Sie starben noch am selben Tag.
Sie haben ein viel zu kurzes Leben mit Entbehrungen, Hunger, würdeloser Behandlung und schrecklicher Angst gehabt, das nach einer entsetzlichen Verfolgung gewaltsam beendet wurde.
Ich bin erschüttert, wenn ich daran denke, wie viel der Welt verloren gegangen ist durch das, was man Ihnen und den Ihrigen angetan hat:
Uns und der ganzen Welt sind nicht nur Ihre Gedanken und Ihr Wissen verloren gegangen - sondern es sind uns auch Ihre Freude und Ihr Lachen verloren gegangen.
Es gibt so viel mehr, das mit Ihnen einfach verschwunden ist, ohne dass es dafür einen Trost oder überhaupt nur annäherungsweise einen Ersatz geben könnte.
Während ich mich mit unserer Vergangenheit auseinandersetze, merke ich, dass
die Schuld, die unsere Vorfahren, deutsche Vorfahren, auf sich geladen haben, niemals gelöscht werden kann.
Die Verbrechen, die an Ihnen und den Ihrigen begangen wurden, können mit nichts relativiert oder gar entschuldigt werden. Diese Schuld wird immer da sein. Und sie muss auch immer da bleiben, um uns alle, alle Menschen auf der ganzen Welt, daran zu erinnern, dass sich diese Geschichte, der Holocaust, niemals wiederholen darf.
Es gibt nichts, das wir Spätgeborenen für Sie und Ihre getöteten Familienmitglieder, Ihre Freundinnen, Ihre Freunde und Bekannte heute noch tun können. Heute können wir nichts mehr für Sie tun- wir können uns nur an Sie erinnern.
Meine Familie und ich möchten von nun an jedes Jahr an Ihrem Deportationstag
nach Auschwitz, der gleichzeitig Ihr Todestag ist, dem 29. Januar, eine Kerze entzünden- diesen Tag werden wir nicht vergessen.
Wir können nur versprechen, dass wir versuchen werden, über all das Leid, das Sie ertragen mussten, und all die geschehenen Grausamkeiten, die Ihnen und Millionen von anderen Menschen widerfahren sind, der Nachwelt zu berichten. Wir können nur versprechen, dass wir alles in unserer Macht stehende tun werden, um jetzt und in Zukunft Unrecht aufzudecken, unsere Mitmenschen darauf hinzuweisen und uns dagegen stark zu machen.
Dies alles kann Ihnen nicht mehr helfen.
Aber möglicherweise- ganz ganz vielleicht - kann es eines Tages dazu beitragen, dass einige wenige Menschen vor einem ähnlichen Schicksal wie dem Ihrigen bewahrt werden können.
Nur das allein können wir tun.
Ihre Lisanne Marie Schulze

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